Die EU-Kommission hat erwartungsgemäß vorläufige Antidumpingzölle gegen die Einfuhren von kaltgewalzten rostfreien Stahlerzeugnissen aus China und Taiwan verhängt (siehe dazu auch den Blogbeitrag vom 03. Juli 2014). Die Zölle treten ab sofort in Kraft, liegen bei den chinesischen Herstellern zwischen 24,3% und 25,2% und bei den Anbietern aus Taiwan zwischen 10,9% und 12,0%. Im EU-Amtsblatt L 79 vom 25. März 2015 sind die vorläufigen Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung ausführlich dargestellt. Ein erstes Studium dieser Bekanntmachung hinterlässt nicht unbedingt den Eindruck, dass hier wirklich ein durch Importe schwer geschädigter Wirtschaftszweig der EU den verdienten Schutz erhält. Der Marktanteil der Importe ist ebenso begrenzt wie die Schädigung der EU-Hersteller. Die Begründung für die Höhe der Zölle lässt staunen.
Die internationalen Handelsstreitigkeiten im Stahlsektor nehmen zu. In fast allen wichtigen Stahlländern ertönen immer lautere Rufe nach einem angemessenen und besseren Schutz gegen Importe. Auch in der EU hat sich der Ton verschärft. Da wird vor Qualitäts- und Sicherheitsmängeln gewarnt, da wird eine Verschärfung und Beschleunigung des Antidumpinginstrumentariums der EU gefordert, da wird ein wirksamer Schutz erbeten. Bei all dem wird betont, man sei nicht gegen Wettbewerb, nur fair müsse er sein. Leider meint mancher, der „fairer Wettbewerb“ ruft, in Wahrheit Schutz vor unliebsamem Wettbewerb.
In diesem Lichte verdient es die vorläufige Entscheidung im Rostfrei-Verfahren, genau gelesen zu werden. Auf 34 Seiten werden die durchgeführten Untersuchungen, Abwägungen und Ergebnisse dargestellt und mit vielen interessanten Informationen unterfüttert. Nach der Lektüre ist der unabhängige Beobachter nicht ganz überzeugt davon, dass hier wirklich ein durch Importe schwer geschädigter Wirtschaftszweig der EU den verdienten Schutz erhält.
Zunächst einmal fällt auf, dass der größte Rostfrei-Hersteller der EU, Outokumpu, weder die Einleitung des Verfahrens unterstützt noch an der durchgeführten Untersuchung mitgewirkt hat. Dass sich das Unternehmen nicht gegen den Antrag ausgesprochen und im Nachhinein die Zölle begrüßt hat, dürfte einem Mindestmaß an Kollegialität geschuldet sein. Ein Unternehmen, das Schutzmaßnahmen wirklich für geboten hält, hätte sich aktiver beteiligt.
Zweitens zeigt die Untersuchung erneut auf, wie schwer „Dumping“ zu beziffern ist. Die mit Hilfe zweier Hersteller des „Vergleichslandes“ USA ermittelten Dumpingspannen liegen bei 30 bis 35% bei den chinesischen Herstellern und bei ca. 12% bei den Herstellern aus Taiwan. Dagegen ermittelte die EU-Kommission bei den Einfuhren aus den betroffenen Ländern am EU-Markt nur eine durchschnittliche Preisunterbietungsspanne von ca. 10%. Diese große Differenz zeigt schon eine Schwäche des Verfahrens, denn sie bedeutet in letzter Konsequenz, dass, würde man das bei China praktizierte Vergleichslandverfahren auf die EU-Hersteller anwenden, ebenfalls „Dumping“ in erheblichem Umfang nachgewiesen werden könnte.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass die asiatischen Hersteller fast ausschließlich an unabhängige Vertriebsunternehmen bzw. Service-Center, die EU-Hersteller aber auch direkt an Endverwender verkaufen. Die Feststellung der Kommission, es gebe „keine Belege für eine Beeinflussung der Preise durch die unterschiedlichen Handelsstufen“ widerspricht der wirtschaftlichen Vernunft. Denn ohne einen entsprechenden Einkaufsvorteil könnte kein Händler oder Service-Center den Wettbewerb beim Endkunden bestehen.
Drittens kann die in der Entscheidung dargelegte, durch die Einfuhren verursachte „Schädigung“ der EU-Hersteller, nicht überzeugen. Dies fängt schon mit den eingeführten Mengen an. Im Untersuchungszeitraum, dem Kalenderjahr 2013, wurden 143.420 Tonnen des Erzeugnisses aus China eingeführt, der Marktanteil in der EU betrug 4,3%. Aus Taiwan wurden 169.067 Tonnen importiert, der Marktanteil lag bei 5,1%. Der gerne zitierte Anstieg der Importe um 70% zwischen 2010 und 2013 verblasst vor dem Hintergrund dieser immer noch niedrigen Marktanteile.
Auch die Schwere des erlittenen Schadens ist nicht unbedingt ersichtlich: Zwischen 2010 und 2013 wurde die Produktionskapazität der EU-Hersteller von 4,174 Mio. Tonnen auf 4,33 Mio. Tonnen erhöht. Die Produktionsmenge der EU-Hersteller sank in diesem Zeitraum um ca. 160.000 Tonnen auf 3,036 Mio. Tonnen, die Kapazitätsauslastung fiel auf 70%. Die Verkaufsmenge der EU-Hersteller auf dem EU-Markt lag 2013 bei 2,631 Mio. Tonnen und damit 10.000 Tonnen niedriger als 2010. Der Marktanteil lag bei 80%. Während die Produktionsstückkosten der EU-Hersteller zwischen 2010 und 2013 um 14% sanken, sind die Verkaufspreise in der EU um 11% gesunken.
Sehen so die Zahlen einer schwer geschädigten Industrie aus?
Als Schaden der EU-Hersteller wird von der Kommission unter anderem angeführt, dass das „Wachstum des Marktes im Bezugszeitraum um etwa 140 000 Tonnen somit fast ausschließlich den Einfuhren aus den betroffenen Ländern zugute“ gekommen sei, während „der Wirtschaftszweig der Union keinerlei Nutzen aus dem Anwachsen des Marktes ziehen“ konnte. Als ob es einen Automatismus gebe, nach dem Nachfragezuwächse nur von einheimischen Herstellern bedient werden dürfen. Zudem wird darauf verwiesen, dass die Kapitalrendite der EU-Hersteller im gesamten Bezugszeitraum negativ blieb und eine Tendenz zur weiteren Verschlechterung aufwies.
Viertens wird der Einfluss anderer Faktoren, die die unbestritten schlechte Lage der EU-Hersteller auch verursacht haben könnten, zwar untersucht. Die Schlussfolgerungen der Kommission klingen aber teilweise fragwürdig. So klingt zum Beispiel die knapp vorgetragene Aussage, „angebliche“ Überkapazitäten in der EU-Rostfrei-Industrie seien „eher ein Ergebnis der gedumpten Einfuhren als die Ursache der Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union“ doch recht kühn angesichts der zuvor präsentierten Zahlen und von zahlreichen gegenteiligen Experten-Einschätzungen verschiedener Experten. Auch die Konsequenzen der unterschiedlichen Preissysteme – das von den EU-Herstellern praktizierte System der Legierungszuschläge wird von den asiatischen Herstellern nicht angewandt – auf die Kosten- und Wettbewerbsposition werden nur seltsam knapp und unvollständig diskutiert.
Verwiesen sei schließlich noch darauf, dass die sich die Ertragssituation der EU-Rostfrei-Hersteller im Jahr 2014 trotz weiter kräftig gestiegener Importe zweifelsfrei verbessert hat.
Besonders nachdenklich machen aber die Ausführungen zur Festlegung der „Schadensbeseitigungsspanne“, die wiederum die Höhe der einzuführenden Schutzzölle determiniert: „Die Schädigung würde beseitigt, wenn der Wirtschaftszweig der Union in der Lage wäre, seine Produktionskosten zu decken und einen angemessenen Gewinn vor Steuern aus den Verkäufen der gleichartigen Ware auf dem Unionsmarkt zu erzielen, der von einem Erwerbszweig dieser Branche unter normalen Wettbewerbsbedingungen, d. h. ohne gedumpte Einfuhren, erwirtschaftet werden könnte…Zu diesem Zweck wurde eine Zielgewinnspanne von 8,1% festgesetzt.“
Wer eine solch hohe und absolut unrealistische „Zielgewinnspanne“ für Stahlunternehmen im heutigen Wettbewerbs- und Marktumfeld festlegt und mit Hilfe von Einfuhrzöllen erreichen will, lässt schon gehörige Zweifel an seinen Absichten aufkommen. So sehr jedem Unternehmen eine solche Spanne zu wünschen ist – auf dem Rücken der Händler und Verbraucher sollte sie nicht erreicht werden.
Normal sollte heute auf dem Rostfrei-Markt die Erkenntnis sein, dass die EU-Hersteller ihre internationale Dominanz verloren haben und sich auch auf ihrem Heimatsmarkt dem globalen Wettbewerb stellen müssen. Dass die von den nichteuropäischen Herstellern produzierte Qualität im Durchschnitt mit der Qualität europäischer Hersteller vergleichbar ist, wie in der Entscheidung richtig festgestellt wird, macht diesen Wettbewerb nicht leichter.