In der hiesigen Öffentlichkeit wird weiter viel über Überkapazitäten am chinesischen Stahlmarkt und über die daraus resultierenden vermeintlichen Dumpingpreise gesprochen. Noch recht wenig Beachtung findet dagegen der Höhenflug der chinesischen Stahlpreise in diesem Jahr, der die Stahlmärkte weltweit anschiebt. Obwohl chinesischer Stahl mehr und mehr durch Antidumping-Zölle vom EU-Markt ferngehalten wird, sind die Auswirkungen auch in Europa zu spüren. Die Geschichte des auf dem Weltmarkt lastenden chinesischen Marktes passt nicht mehr zum tatsächlichen Geschehen. Eine Neu-Erzählung scheint nötig. Für Stahlverarbeiter ergeben sich daraus neue Risiken.
Die in China im Frühjahr zu beobachtenden Preisrückgänge leiteten nicht die vielfach erwartete Korrektur ein, sondern erwiesen sich als nur kurzes Intermezzo. Über den Sommer kam es zu neuerlichen kräftigen Preiszuwächsen. Die Warmbandpreise sind zwischen Mai und August um weit mehr als 100,- $/t gestiegen. Die chinesischen Stahlpreise insgesamt liegen Anfang September je nach Erzeugnis auf Vier- oder Fünfjahreshochs. Die Margen der Stahlerzeuger sind so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die meisten Beobachter sind für die kurzfristigen Aussichten „bullish“ gestimmt. Die Rohstahlproduktion ist bis Juli nach offiziellen Zahlen um gut 5% gegenüber dem Vorjahr gestiegen und bewegt sich auf Rekordniveau. Die Exporte sind im selben Zeitraum um knapp 30% oder 16 Mio. Tonnen gegenüber dem Vorjahr gesunken.
Wie passt diese Entwicklung zu einem Markt, für den die Überkapazitäten auf mindestens 300 Mio. taxiert werden und für den der Weltstahlverband noch im April eine in 2017 stagnierende Nachfrage vorhergesagt hat?
Für die absolut überraschende Entwicklung lassen sich einige Gründe nennen. An erster Stelle steht das stark expansive Wirken der chinesischen Geld-, Kredit- und Konjunkturpolitik. Diese wirkt kräftiger und länger als erwartet und treibt die Stahlnachfrage aus dem Bau- und Infrastrukturbereich nach oben. Die Anlageninvestitionen lagen bis Juli um mehr als 8% über dem Vorjahr. Vom konsum- und dienstleistungsorientierten Wachstumspfad, der die Stahlnachfrage dämpft, kann in diesem Jahr keine Rede sein.
Zudem haben die Behörden bei der Schließung von Kapazitäten ernstgemacht. Betroffen waren überwiegend zuvor statistisch nicht erfasste Induktionsöfen zur Herstellung einfacher Langprodukte. Mit einer stillgelegten Kapazität von ca. 100 bis 120 Mio. Tonnen wurden die angestrebten Jahresziele offenbar schon im ersten Halbjahr erreicht. Die oft niedrigpreisige, statistisch nicht erfasste Erzeugung wurde durch „legale“ Erzeugung mit höheren Preisen ersetzt, was den Anstieg der offiziellen Produktionszahlen teilweise erklärt.
Der finanzmarktnahe chinesische Stahlmarkt profitiert zudem von der allgemein positiven Börsenstimmung. Immer wieder treiben zudem Gerüchte über die Schließung von Stahlwerken oder umweltbedingte Produktionsdrosselungen die Börsennotierungen für Stahl nach oben. Zuletzt rückten Spekulationen über eine aus Umweltgründen verordnete Produktionssenkung bei Rohstahl im Winterhalbjahr ins Zentrum der Diskussion. Was Gerücht ist und was Wahrheit, weiß oft keiner so richtig.
Ein großes Rätsel geben die Nachfrageeinschätzungen auf. Denn angesichts einer erhöhten Inlandsproduktion und sinkender Exporte bietet nur eine kräftig wachsende Stahlnachfrage ein solides Fundament für das aktuelle Preisniveau. In welchem Umfang diese wirklich vorhanden ist, bleibt derzeit unklar. Weltmarktführer ArcelorMittal hat seine Prognose für China im Sommer von zuvor NULL auf +2,5 bis +3,5% hoch gesetzt. Der chinesische Stahlverband CISA sprach im August gar von +10%. Sollte die CISA-Einschätzung zutreffen, würde die Weltnachfrage nach Stahl in diesem Jahr ungefähr viermal so stark wachsen wie noch am Jahresanfang angenommen. Nach drei Jahren mit nur minimalen Zuwächsen würde die weltweite Nachfragemenge so stark zunehmen wie zuletzt 2013. Der Wechsel vom Stagnations- zurück auf den Wachstumspfad wäre vollzogen. Und die stürmische Preisentwicklung des Sommers legt die Vermutung nahe, dass die CISA-Prognose der Realität am nächsten kommt.
Die Folgen des chinesischen Höhenfluges für den Weltmarkt sind vielfältig und weitreichend. Die analog zum Inlandsmarkt gestiegenen chinesischen Exportpreise ziehen das Preisniveau am Weltmarkt unmittelbar nach oben. Trotz der dämpfend wirkenden Euroaufwertung ist dies auch am EU-Importmarkt zu spüren. Zugleich machen hohe Preise in Asien für viele der dortigen Anbieter den Export nach Europa unattraktiv. So sind zum Beispiel in der EU die Angebotsmengen aus Indien im Vergleich zum Frühjahr spürbar gesunken. Entsprechend gering ist aktuell der von der Importseite ausgehende Wettbewerbsdruck.
Gute Margen und hohe Produktionsmengen in China haben die Rohstoffpreise über den Sommer auf Höhen geführt, die weit über den Mehrheitsprognosen liegen. Die chinesischen Importe von Eisenerz und Kokskohle liegen klar über dem Vorjahresniveau. Die internationalen Schrottpreise sind ebenso im Steigflug, weil Stahlhersteller aus der Türkei ihre Produktion angesichts besserer Wettbewerbschancen erhöhen und am Weltmarkt wieder mehr Schrott kaufen.
So sind es fast ausschließlich Faktoren mit Ursprung in China, die dazu führen, dass für das vierte Quartal die Stahlpreisprognose für Deutschland höher ausfällt als noch vor wenigen Monaten.
Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung bleibt groß. Dafür sorgen alleine schon die große Spanne in den Nachfrageprognosen und die insgesamt unklare Datenlage. Darüber hinaus muss im Hinblick auf Kapazitäten, Umweltfragen und Wachstum jederzeit mit politischen Eingriffen von großer Tragweite gerechnet werden. Der starke Einfluss der Finanzmärkte tut das Übrige zur Unsicherheit dazu. Derzeit ist es – vor allem mit Blick auf 2018 - absolut unklar, wie es im Reich der Mitte weitergeht. Vom großen Rückschlag bis zu einer Fortsetzung des Hochs scheint alles möglich, große Schwankungen eingeschlossen. Für Stahlverarbeiter ergeben sich aus dieser Unsicherheit große Risiken. Klar ist, dass China bei weitem nicht mehr so auf dem Welt-Stahlmarkt lastet, wie es noch 2015 der Fall war. Klar ist auch, dass die Markteinschätzungen für 2017 zu negativ waren, und es teilweise noch sind. Ob die China-Story für länger als ein Jahr umgeschrieben werden muss, wird sich vielleicht schon in den kommenden Monaten zeigen.