Es kommt nur selten vor, dass eine Brüsseler EU-Verordnung die davon betroffene Branche zu sofortigen Preiserhöhungen veranlasst. Mit ihrer Ankündigung, die „Schutzmaßnahmen“ gegen Stahleinfuhren um drei Jahre zu verlängern, hat die EU-Kommission genau diese Wirkung erzielt. Die Entscheidung ist skandalös, weil alle rechtlichen Vorgaben - aus politischen Gründen - ignoriert werden. Die Not der verarbeitenden Industrie löst offenbar nur ein müdes Achselzucken aus. Das Bundeswirtschaftsministerium in Berlin spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Die Stahlerzeuger der EU dürfen sich über den Wettbewerbsschutz freuen in einer Zeit, in der Stahlpreise und Gewinne der Erzeuger so hoch sind wie noch nie.

Die im Rahmen der Notifikation bei der WTO bekannt gegebene Absicht der EU, die eigentlich am 30. Juni 2021 auslaufenden „Schutzmaßnahmen“ gegen Stahleinfuhren aus Drittländern um weitere drei Jahre verlängern zu wollen, hat bei Stahlverarbeitern in der EU eine breite Palette an Emotionen ausgelöst. Von überraschtem Kopfschütteln bis großer Wut reichen die Reaktionen. Für viele Marktteilnehmer war es kaum vorstellbar, dass die EU in einer Phase des akuten Stahlversorgungsnotstandes massiv importbeschränkende Maßnahmen für sinnvoll hält.

Voraussetzungen für Safeguards nicht erfüllt
Zur Erinnerung: Bei „Schutzmaßnahmen“ oder „Safeguards“ handelt es sich um ein für Ausnahmesituationen bestimmtes Instrument der Einfuhrbeschränkungen, dessen Anwendung an enge Bedingungen geknüpft ist. Diese benennt die EU-Komission auf ihrer Webseite. Am wichtigsten ist, dass ein scharfer, unvorhergesehener Anstieg der Importe nachgewiesen werden muss. Dieser Anstieg muss eine Schädigung der EU-Hersteller verursachen.

Die nun bevorstehende Verlängerung ist deshalb so skandalös, weil die EU im Rahmen ihrer WTO-Notifikation selbst bestätigt, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist. Die EU-Importe sind seit der Einführung der Schutzmaßnahmen im Jahr 2018 bis 2020 um 27% gefallen und haben den niedrigsten Stand seit 2014 erreicht. Der Marktanteil der Importe ist von 20,4% im Jahr 2018 auf 17,9% im Jahr 2020 gefallen. Damit ist auch kein relativer Anstieg der Importe zu verzeichnen.
Dass die Kommission die Importe dennoch als „hoch“ bezeichnet, ist eine rein subjektive Bewertung, die nach allen rechtlichen Vorgaben nicht zur Begründung von Schutzmaßnahmen zulässig ist.

Da die Importe seit 2018 so deutlich gefallen sind, liegt es auf der Hand, dass die negative Entwicklung einiger Branchenindikatoren der Stahlindustrie zwischen 2018 und 2020 nicht auf höhere Importe zurückgeführt werden kann. Besonders ärgerlich ist, dass die spätestens seit dem 4. Quartal 2020 sichtbare Besserung der wirtschaftlichen Situation der EU-Hersteller offenbar gar nicht in die Bewertung eingeflossen ist, obwohl die entsprechenden Daten schon lange vorliegen. So sind die von führenden Stahlherstellern für das 1. Quartal 2021 veröffentlichten Unternehmensergebnisse so gut wie seit langem nicht mehr. Der EU-weit größte Stahlhersteller ArcelorMittal hat in Europa im 1. Quartal 2021 die höchste EBITDA-Marge pro Tonne Stahl seit mindestens zehn Jahren erreicht. Herstellerübergreifend werden die Ergebnisprognosen für das laufende Jahr laufend nach oben korrigiert. Dies ist angesichts nie gesehener Preiserhöhungen und rekordhoher Stahlpreise auch kein Wunder. Wie man in der aktuellen Situation eine schützenswerte Notsituation der Hersteller erkennen kann, ist schleierhaft.

Schutzmaßnahmen müssen im Gesamt-Interesse der EU sein. Nun sind Interessenabwägungen immer subjektiv und je nach Perspektive wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ein klares Kriterium ist die volkswirtschaftliche Bedeutung und die Zahl der Beschäftigten. Mit ca. 3.500.000 Beschäftigten in über 382.000 Betrieben ist der metallverarbeitende Sektor der EU (ohne Maschinenbau und Automobilindustrie) zehnmal größer als der stahlerzeugende Sektor. Im Vergleich zur Stahlindustrie ist die Wertschöpfung der Branche etwa achtmal höher.

Am EU-Stahlmarkt ist eine bedrohliche Knappheit entstanden, weil die Erzeugung der EU-Hersteller nicht so schnell und so stark gestiegen ist wie die Nachfrage der Verwender. Die Versorgungskrise gefährdet den wirtschaftlichen Aufschwung und bereitet vielen Stahlverarbeitern existenzielle Probleme. Dass eine Verknappung des Angebots durch Importbeschränkungen im Gesamt-Interesse der EU liegen könnte, scheint ein sehr weit hergeholter Gedanke.

Die Aufzählung ließe sich fortsetzen, das Ergebnis bleibt unverändert: die juristischen Kriterien sind nicht erfüllt. Die Schutzmaßnahmen werden politisch umgedeutet als Möglichkeit, die EU-Stahlhersteller vor Wettbewerb zu schützen und Marktanteile zu sichern. Dass dies, gerade in der jetzigen Situation, zum großen Schaden der Stahlverarbeiter ist, wird dafür hingenommen.

Die unrühmliche Rolle Berlins
In Deutschland haben Unternehmen des stahlverarbeitenden industriellen Mittelstands, der in Sonntagsreden gerne als Herz der deutschen Wirtschaft bezeichnet wird, eine gewisse Hoffnung auf das Wirtschaftsministerium in Berlin gesetzt. Zwar hatte Bundeswirtschaftsminister Altmaier im Februar zusammen mit Amtskollegen aus anderen Ländern eine realitätsferne Lagebeschreibung der Stahlhersteller übernommen (siehe dazu meinen älteren Blog-Beitrag).

Trotzdem gaben Gespräche Anlass zu dem Glauben, dass eine objektive und umfassendere Bestandsaufnahme auch zu einer anderen Bewertung der Schutzmaßnahmen führen würde. Entsprechend viele Eingaben und Informationen zur Lage am Stahlmarkt und den Folgen für die verarbeitende Industrie wurden abgeliefert. Doch der Glaube hat sich als trügerisch erwiesen. In einer Veröffentlichung des Ministeriums vom 03.05.2021 zum „Handlungskonzept Stahl“ findet sich der lapidare Hinweis: „Daher setzt sich die Bundesregierung gemeinsam mit elf weiteren Mitgliedstaaten bei der EU-Kommission dafür ein, die EU-Schutzmaßnahmen über den 30. Juni 2021 hinaus zu verlängern.“ Am 18.06.2021 hat Deutschland zusammen mit 16 weiteren Mitgliedstaaten der EU dem Kommissionsvorschlag für eine Verlängerung der Maßnahmen zugestimmt.

Nun fragt man sich zurecht, als Vertreter welcher Industrie-Interessen sich das Ministerium versteht.

Stahlindustrie als Nutznießer
Da der Wortlaut der neuen Schutzmaßnahmen-Verordnung noch nicht veröffentlicht ist, sind die Details der Ausgestaltung noch nicht bekannt. So bleibt derzeit offen, ob es bei der komplizierten Regelung mit Quartals- und Länderkontingenten bleibt. Entsprechend können die mittelfristigen Marktwirkungen noch nicht voll bewertet werden.

Eindeutig sind jedoch die kurzfristigen Konsequenzen am Markt: Nachdem sich die Spotmarktpreise bei Flachstahl infolge der Preisrückgänge in Asien gerade beruhigt hatten, haben EU-Hersteller sofort nach Bekanntwerden der Schutzmaßnahmen-Verlängerung neue Preiserhöhungen in Aussicht gestellt. Auch in anderen Marktsegmenten wird immer wieder das Argument der nun ja weiterhin fehlenden Importalternativen für Preiserhöhungen genutzt.

Wenn dann die Wirtschaftsvereinigung Stahl per Pressemitteilung die Maßnahmen vollkommen sachfremd umdeutet und als „dringend erforderlich...für den angestrebten raschen Einstieg in die Transformation hin zur grünen Stahlproduktion“ bezeichnet. Und wenn ein Vertreter des europäischen Stahlverbandes Eurofer auf einer Stahlkonferenz auf Vorwürfe, die Maßnahmen verschärften die Überhitzung des EU-Marktes, mit der Aussage reagiert:  “The function of the safeguard was never to micro-manage or respond to short-term tensions in demand, supply or prices…“ (siehe hier)

…ja, dann ist es nachvollziehbar, wenn die Enttäuschung über die Maßnahmenverlängerung auch in Wut umschlägt.

© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.