Bei vielen Stahlerzeugnissen war im Sommer eine Beruhigung der Spotmarktpreise zu beobachten. Bei Flachprodukten kam es zu geringfügigen Rückgängen, bei Langprodukten ist zumindest der Aufwärtstrend der Vormonate ins Stocken geraten. Lediglich am Rostfrei-Markt steigen die Preise unvermindert deutlich an und Einkäufer sind auf der verzweifelten Suche nach Material. Bei der Versorgung insgesamt kann zwar keine Entwarnung gegeben werden, aber die Verfügbarkeit hat sich im Vergleich zu den Zuständen im 2. Quartal etwas gebessert. Marktteilnehmer fragen sich nun, ob es im Herbst zu einer deutlichen Entspannung kommen wird. In der Tat sprechen nun mehrere Faktoren für eine bevorstehende Preisabschwächung. Eine dafür nötige Voraussetzung ist aber noch nicht erfüllt.

Eine wichtige Bemerkung vorweg: Im Ausnahmejahr 2021 bedeutet „Entspannung“ oder „Beruhigung“ etwas anderes als in normalen Zeiten. Die Stahlpreise sind in den vergangenen Monaten in nie gesehener Geschwindigkeit auf nie gesehene Höhen gestiegen. Bei Referenzprodukt Warmbreitband liegen die Spotmarktpreise um fast 50% über dem bisherigen Peak des Jahres 2008 und signalisieren damit unverändert große Knappheit. Ein Preisrückgang um 10,- oder 20,- € mag aus psychologischer Sicht wichtig sein, an den eigentlichen Zuständen ändert das erst einmal nichts.

Mehrere Faktoren sprechen für bevorstehende Abschwächung

Ebenso richtig ist aber auch, dass sich das Marktumfeld seit dem Frühjahr insofern geändert hat, als nicht mehr alle wesentlichen Einflüsse einen weiteren Preisanstieg signalisieren. Vielmehr haben sich mittlerweile einige Faktoren herausgebildet, die in normalen Zeiten eine bevorstehende Preisabschwächung signalisieren würden.
So hat sich der mengen- und preismäßige Druck durch Drittlandimporte überraschend deutlich verstärkt. Die EU-Schutzmaßnahmen wirken zwar bei verschiedenen Erzeugnis-Herkunftsland-Kombinationen zweifellos begrenzend. Sie können aber am Gesamtmarkt die von den gewachsenen Preisunterschieden vor allem zum asiatischen Markt ausgehenden Anreize nicht stoppen. Zudem hat in vielen Export-Ländern die Stahlnachfrage nachgelassen, teilweise bedingt durch neue Corona-Restriktionen. Stahl ist dort kein knappes Gut mehr.

Insbesondere bei Flachprodukten tragen steigende Importe zu einer verbesserten Versorgungslage bei. Gleichzeitig ist der für viele Monate kaum existente Preiswettbewerb wieder in Gang gekommen. Dieser Effekt ist in Südeuropa stärker, weshalb dort auch die Preise deutlicher gefallen sind. Aber auch hierzulande hat sich der Materialzufluss bei vielen Service-Centern verbessert. Für das 4. Quartal wird ein weiterer Importzustrom erwartet und der Preistrend am Weltmarkt zeigt eher nach unten.

Nachdem die Wartungsarbeiten bei ThyssenKrupp planmäßig beendet wurden und Salzgitter für November die Inbetriebnahme eines weiteren Hochofens angekündigt hat, dürfte auch die Erzeugung im Schlussquartal zulegen. Auf EU-Ebene scheinen einige Probleme unter anderem bei NLMK und bei Liberty Steel behoben oder auf dem Weg zur Lösung zu sein. Insgesamt hält sich die EU-Erzeugung seit März auf dem ordentlichen Niveau vom Frühjahr 2019, was ungefähr den Bedarfen entspricht.

Bei Eisenerz ist der Referenzpreis seit Anfang Juli um ca. 30% gesunken. Trotz weiter steigender Preise für Kokskohle sind die spotmarktbasierten Rohstoffkosten der Hochofenroute im August um ca. 50,- €/t gefallen. Am internationalen Schrottmarkt liegen die Preise etwa 50,- $/t niedriger als Anfang Juli, wobei allerdings die hiesigen Preise für Neuschrott bei weitem nicht so stark nachgegeben haben. Insgesamt gehen von der Rohstoffseite somit ebenfalls Abwärtssignale aus.

Trumpfkarte der Werke ist die Auslastung

Diesen Signalen können die Werke derzeit noch mit Verweis auf ihre sehr gute Auslastung widerstehen. Immer noch liegen die Lieferzeiten bei vielen Erzeugnissen bei mehreren Monaten. Solange sich die Werke nicht ernsthaft um Neuaufträge bemühen müssen, gibt es für sie keinen Anlass für Preissenkungen.

Entscheidend für die weitere Preisentwicklung ist daher, wie lange dieser Zustand erhalten bleibt. Ein scharfer Nachfrageeinbruch mit einem entsprechenden Absturz der Stahlpreise, wie es 2008 zu beobachten war, ist aufgrund der insgesamt noch niedrigen Bestände in der Wertschöpfungskette und dem derzeitige konjunkturellen Umfeld wenig wahrscheinlich.

Vorliegende Informationen sprechen aber durchaus dafür, dass sich die Angebot-Nachfrage-Relation seit März aus Einkäufersicht deutlich gebessert hat. Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes lag der Bestelleingang der Stahlindustrie im Juni um ca. 25% niedriger als im März. Danach hat sich der monatelange Nachfrageüberhang aufgelöst und es geht „nur“ noch darum, alte Auftragsüberhänge abzuarbeiten. Dieser Befund steht aber unter Vorbehalt. Denn es ist unklar, inwiefern dies an einem Auftragsannahmestopp vieler Werke im 2. Quartal lag bzw. in welchem Umfang es noch eine aufgestaute Nachfrage gibt. In vielen Abnehmerbranchen ist die Lücke zwischen Auftragseingang und Erzeugung unüblich groß geworden, weil verschiedene Vormaterialien nicht in ausreichendem Maße verfügbar waren. Auf der anderen Seite scheinen sich die Abrufmengen der Automobilindustrie schwächer zu entwickeln als zunächst erwartet, weil die Halbleiterthematik sich wohl noch über einige Zeit hinziehen wird. Auch ist nicht klar, wie stark der Auftragsbestand der Werke von Doppelbuchungen getragen wird, die möglicherweise wieder storniert werden. Damit sind auf der Nachfrageseite in den kommenden Monaten verschiedene Szenarien möglich.

Vor allem für die Flachstahlpreise ist entscheidend, welches Szenario sich nach der Sommerpause durchsetzen wird. Denn hier war das Bedarfs-Jo-Jo der vergangenen zwölf Monate der wesentliche Preistreiber. Bei großer Unsicherheit ist es das wahrscheinlichste Szenario, dass sich die Versorgungslage nur langsam entspannt und dass damit die Flachstahlpreise in den kommenden Monaten in kleinen Schritten langsam fallen werden.

Bei baunahen Langprodukten waren die Bedarfsschwankungen wesentlich schwächer ausgeprägt. Die bisherigen Preisschübe standen in engem Zusammenhang mit den Schrottpreisen, die auch die weitere Entwicklung maßgeblich bestimmen dürften. Die aktuell etwas schwächeren Schrottpreise sollten einen weiteren Preisanstieg verhindern. Da der globale Schrottmarkt vor einem strukturellen Umbruch mit neuen Einflüssen steht, ist die weitere Preisentwicklung kaum vorherzusagen. Zudem muss berücksichtigt werden, dass die EU-Schutzmaßnahmen bei Erzeugnissen wie Walzdraht oder Betonstahl den Importdruck stärker mindern.

Unter dem Strich zeichnet sich also eine gewisse Entspannung ab, die aber voraussichtlich zögerlich ablaufen wird. Eine Rückkehr zu einigermaßen normalen Zuständen ist erst 2022 zu erwarten.

© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.