Es scheint paradox, ist aber die bittere Wahrheit: Stahlherstellern geht es weltweit so gut wie lange nicht mehr. Stahleinfuhren aus China spielen sowohl in den USA als auch in Europa kaum noch eine Rolle, die chinesischen Exporte sind drastisch gefallen. Dennoch droht akut eine weitere Eskalation der Protektionismuswelle im weltweiten Stahlhandel, die in einen regelrechten Handelskrieg münden könnte. Die Entscheidung der US-Regierung, künftig kräftige Importzölle zwischen 20 und 50 Prozent auf die Einfuhr von Waschmaschinen und Solarmodulen zu erheben, zeigt, dass „America First“ mehr ist als nur Rhetorik. Die nächste Entscheidung könnte die US-Stahlimporte betreffen und eine weltweite Kettenreaktion auslösen. Wie zuletzt häufig in stahlpolitischen Fragen, besteht die Gefahr, dass die Interessen der Stahlverbraucher nur wenig Beachtung finden. Diese könnten sowohl direkt als auch indirekt von neuen Maßnahmen betroffen sein.
Bereits im vergangenen Jahr hatte US-Präsident Trump eine Untersuchung zu der Frage in Auftrag gegeben, ob Stahlimporte die nationale Sicherheit bedrohen. Eine aus dem Jahre 1962 stammende und höchst selten zur Anwendung kommende Rechtsgrundlage erlaubt es dem US-Präsidenten für diesen Fall, importbeschränkende Maßnahmen zu ergreifen. Nachdem sich der ursprünglich schon zur Jahresmitte 2017 erwartete Abschluss der Untersuchung mehrfach verzögerte, hat das US Department of Commerce dem Präsidenten nun im Januar seine Ergebnisse vorgelegt (aber noch nicht veröffentlicht). Diesem bleiben bis zu 90 Tagen Zeit, um etwaige Maßnahmen zu beschließen. Besonders perfide ist, dass die Untersuchung nicht auf unfaire Handelspraktiken, sondern ausschließlich auf einen Schaden oder Risiken für die US-Industrie abzielt.
Die US-Stahlindustrie hat durch intensives Lobbying in den vergangenen Jahren bereits erreicht, dass ihr Markt durch teilweise absurd hohe Antidumping-Zölle gegen Einfuhren vor allem aus China geschützt ist. Auch deutsche Unternehmen waren im vergangenen Jahr betroffen. Die relevante Gesetzgebung war schon unter Präsident Obama verschärft worden. Dennoch drängen die US-Werke unter Verweis auf angeblich „unfaire“ Handelspraktiken massiv auf eine weitere Verschärfung der Importrestriktionen über den Dumping-Tatbestand hinaus. Stärker als vorher haben sich aber auch Stahlverarbeiter und die Exportwirtschaft in die politische Diskussion eingebracht. Sie sehen den US-Markt immer stärker von wettbewerbsfähigen Preisen abgeschnitten und betonen, dass viele der importierten Stähle in den USA nicht hergestellt werden (können). Schon jetzt leiden US-Stahlverbraucher unter den weltweit höchsten Stahlpreisen und beklagen häufig mangelnde Liefer- und Innovationsfähigkeit der US-Werke. Exportstarke Bereiche wie die Landwirtschaft warnen vor möglichen Gegenmaßnahmen der Handelspartner.
Die jüngsten Worte und Taten der US-Administration lassen befürchten, dass Stahlverbraucher erneut den Kürzeren ziehen werden. Die Wahrscheinlichkeit für weitere Handelsbeschränkungen und Zölle im Stahlbereich ist hoch. Welche Erzeugnisse und Lieferländer dann betroffen wären, ist offen. Als Lieferländer sind nach Zahlen des US Department of Commerce mengenmäßig am bedeutsamsten Kanada (16% der US-Stahlimporte im Jahr 2017), Brasilien (14%), Süd-Korea (10%), Mexiko (9%), die Türkei und Japan (jeweils 5%). Auf China entfielen im Jahr 2017 nur noch weniger als 2% aller amerikanischen Stahleinfuhren. Ähnlich wie in der EU hat der Schwerpunkt der öffentlichen Diskussion mit den tatsächlichen Zahlen nur wenig zu tun. Die Doppelbödigkeit der Forderung nach „fairem“ Handel ist lange entlarvt.
Deutsche Stahlhersteller haben im Jahr 2017 bis November die beachtliche Menge von knapp 1,3 Mio. Tonnen Stahl in die USA geliefert. Davon waren ca. 45% Flachprodukte, 24% Langprodukte und 21% Rohre. Sollte die EU von US-Maßnahmen betroffen sein, wäre die deutsche Stahlindustrie mit Abstand der größte Leidtragende. Die Liefermengen anderer EU-Länder sind deutlich kleiner. Unmittelbar betroffen wären aber auch deutsche Stahlverarbeiter mit einem Produktionsstandort in den USA, die in vielen Fällen ihren Stahl wenigstens teilweise aus Deutschland beziehen. Je nach Maßnahme könnten sich diese Bezüge deutlich verteuern oder ganz ausfallen.
Mindestens genauso wichtig wie die direkte Wirkung möglicher US-Maßnahmen sind mögliche Gegenmaßnahmen. Die EU hat bereits angekündigt, schnell und mit „angemessener Härte“ zu reagieren, falls die USA die Einfuhr aus Europa einschränken würden. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl hat kürzlich vorsorglich vor „erheblichen Handelsumlenkungseffekten“ selbst für den Fall gewarnt, dass die EU von den US-Maßnahmen ausgenommen würde. Mit diesem Argument soll der Boden dafür bereitet werden, dass sich mögliche Gegenmaßnahmen der EU nicht nur gegen Stahleinfuhren aus den USA richten, sondern die EU-Einfuhren generell beschränken könnten. Dabei sind nach vielen harten Antidumping-Entscheidungen schon jetzt viele EU-Einfuhren mit Zöllen belegt. Und auch die EU hat, nicht zuletzt aufgrund des Drucks der Stahlindustrie, ihr Antidumping-Recht gerade verschärft. Für viele Stahlverarbeiter ist schon jetzt ist das Angebot der EU-Werke zu knapp und Importalternativen fehlen.
Mögliche EU-Maßnahmen könnten in sogenannten „safeguard measures“ bestehen, die unter bestimmten Bedingungen Importrestriktionen unabhängig von nachzuweisenden Dumpingtatbeständen ermöglichen. Entsprechende Maßnahmen können schnell ergriffen werden und sich gegen alle Einfuhren richten. Ein historisches Vorbild dafür gibt es: Schon im März 2002 hatten die USA Schutzmaßnahmen eingeführt und die Einfuhr bestimmter Stahlerzeugnisse mit Zöllen bis zu 30 % belegt. Ebenfalls im Wege eines Schutzklauselverfahrens legte daraufhin die EU-Kommission für 15 Produktkategorien Mengen fest, bei deren Überschreitung ein Zoll von 25% fällig wurde. Erst nachdem die Welthandelsorganisation WTO im November 2003 die US-Maßnahmen als unvereinbar mit den WTO-Regeln erklärt hatte, wurden die Beschränkungen beidseitig aufgehoben. Heute ist es allerdings vollkommen unklar, inwieweit die WTO-Regeln noch ein international akzeptierter Maßstab sind.
Für Stahlverarbeiter beidseits des Atlantiks besteht die reale Gefahr, zum Opfer eines Stellvertreterkonfliktes rund um die zur Schlüsselindustrie auserkorene Stahlbranche zu werden. Dabei ist es für betroffene Unternehmen wohl nur ein schwacher Trost, dass die EU lediglich als reagierende Partei auftritt. Es bleibt nur die Hoffnung, dass die politisch Handelnden die weitreichenden Folgen ihrer Entscheidungen für wesentlich größere Industriebereiche und für die Endverbraucher nicht gänzlich aus den Augen verlieren.
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