Stahlmarkt Consult Blog

In meinem Stahlmarkt-Blog befasse ich mich mit Neuigkeiten aus der Stahlmarkt-Welt und analysiere Trends und Marktentwicklungen.

CO2-Kosten der Stahlherstellung: Überraschende Erkenntnisse

Wie funktioniert der Europäische Emissionshandel für die Stahlindustrie und welche CO2-Kosten resultieren daraus für die Hersteller? Die Antwort auf diese Frage ist kompliziert, bringt aber durchaus überraschende Erkenntnisse. Denn durch zahlreiche Sonderregeln wird die Wirkung des Emissionshandels verwässert. Wie der Vergleich der tatsächlichen Emissionen mit den kostenfrei zugteilten Zertifikaten zeigt, sind im  aktuellen System die Belastungen geringer als oft behauptet. Einzelne Unternehmen können offenbar sogar von der Teilnahme am Emissionshandel profitieren. Erst 2026 wird sich daran etwas ändern.

Nicht nur in Stahlpreisverhandlungen, sondern auch in der politischen Diskussion spielen die CO2-Kosten der Hersteller eine gewichtige Rolle. Diese werden an der einen Stelle zur Begründung von Mehrpreisforderungen herangezogen und sollen an der anderen Stelle der Ruf nach staatlicher Unterstützung und Schutz vor Importen untermauern.

Der Europäische Emissionshandel – ein schwer durchschaubares System

Maßgebliche Grundlage für Stahlerzeuger ist der seit 2005 bestehende Europäische Emissionshandel (EU Emissions Trading System - EU ETS). Dies ist ein „cap-and-trade“-System, dem mehr als 11.000 EU-Unternehmen aus den Bereichen Energieerzeugung und Industrie unterliegen. Darin wird die Menge der jährlich erlaubten CO2-Emissionen begrenzt (cap) und im Zeitverlauf gesenkt. Innerhalb der Grenze erhalten Unternehmen Emissions-Zertifikate (emission allowances, EUA), wobei ein Zertifikat einer Tonne CO2 entspricht. Die EUA´s können frei gehandelt werden, auch im Rahmen von Termingeschäften. Während der Preis einer EUA im Jahr 2020 noch bei ca. 20,- € lag, wurden in diesem Jahr Preise zwischen 80,- und 100,- € erzielt. Häufig wird angenommen, dass die dem EU-ETS unterliegenden Unternehmen für jede ausgestoßene Tonne CO2 ein entsprechendes Zertifikat erwerben müssen, dass zu entsprechenden Kosten führt.

Tatsächlich ist es aber viel komplizierter. Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, erhalten als Schutz vor carbon leakage einen großen Teil der EUA´s kostenlos. Hierfür gilt ein sogenanntes Benchmark-System. Dieses wurde für 3. Phase des EU-ETS (2013 bis 2020) entwickelt. Für Anlagen, die dem EU-ETS unterliegen, wurden Prozess-Benchmarks ermittelt. Der Durchschnitt der 10% effizientesten Anlagen in den Jahren 2016/2017 bilden den Bestwert. Alle Unternehmen erhalten in dieser Höhe ihre EUA´s kostenlos. Je weiter ein Unternehmen vom Bestwert entfernt liegen, desto mehr EUA´s muss es zukaufen. Die Benchmarks der laufenden 4. Phase (2021 bis 2025) basieren auf diesem System, es wurden aber Anpassungen vorgenommen.

Für integrierte Hüttenwerke der Hochofenroute sind folgende Prozesse und Benchmarks relevant:

  • Herstellung von Koks, Benchmark 0,289 t CO2e/Tonne (-24,0% zur 3. Phase),
  • Sintern des Eisenerzes, Benchmark 0,157 t CO2e/Tonne (-7,9% zur 3. Phase),
  • Herstellung von Roheisen, Benchmark 1,228 t CO2e/Tonne (-3,0% zur 3. Phase)

Bis zur Stufe der Roheisenerzeugung ergibt sich ein kumulierter Benchmarkwert von 1,662 t CO2e/Tonne. Demgegenüber steht ein für die Jahre 2016/2017 von der EU ermittelter durchschnittlicher CO2-Ausstoß von 2,062 CO2e/Tonne. Der mittlere Zukaufbedarf der EU-Werke liegt damit theoretisch bei 0,4 EUA pro Tonne Roheisen. Bei einem Preis von 90,- € pro EU ergeben sich daraus mittlere Kosten von 36,00 € pro Tonne Roheisen. Da für eine Tonne Rohstahl ca. 800 bis 850 kg Roheisen eingesetzt werden, verbleibt auf dieser Erzeugungsstufe eine Mehrbelastung von ca. 30,- €. Weitere Prozesse der Stahlerzeugung wie das Walzen oder Veredeln unterliegen nicht dem ETS.

Für Elektrostahlwerke gibt es zwei Benchmarks:

  • Herstellung von Kohlenstoffstahl, Benchmark 0,215 t CO2e/Tonne (-24,0% zur 3. Phase),
  • Herstellung von hochlegiertem Stahl, Benchmark 0,268 t CO2e/Tonne (-24,0% zur 3. Phase)

Die aus dem theoretischen mittleren Zukaufbedarf der EU-Werke resultierenden Kosten liegt bei EAF-Kohlenstoffstahl  bei ca. 9,- € pro Tonne und bei hochlegiertem Stahl aus Elektrostahlwerken bei ca. 10,- € pro Tonne.

Theorie und Praxis: Emissionshandel durch Sonderregeln verwässert

Die in der Theorie ableitbaren CO2-Kosten sind allerdings in der Praxis nur sehr bedingt relevant. Dies liegt zum einen daran, dass es sich um Durchschnittswerte handelt. Die effizientesten Werke erhalten alle EUA´s kostenlos, die ineffizientesten Werke haben deutlich höhere Kosten zu tragen. Zweitens stammen die Daten zu den durchschnittlichen tatsächlichen  Emissionen aus den Jahren 2016/2017. Seitdem dürften erheblich bessere Emissionswerte erreicht werden, während der wichtigste Benchmark-Wert für Roheisen nur minimal abgesenkt wurde. Drittens müssen die EUA´s nicht zum aktuellen Preis erworben worden sein. So teilte zum Beispiel die Salzgitter AG Anfang 2021 mit, man habe schon bis zum Jahr 2030 CO2-Emissionszertifikate erworben. Zudem zeigen Untersuchungen, dass die Stahlbranche in den Jahren bis 2019 erheblich mehr CO2-Emissionszertifikate kostenfrei bekommen hat, als tatsächlich benötigt wurden. Sofern diese nicht zwischenzeitlich veräußert worden sind, können sie weiter genutzt werden.

Schließlich bekommt jedes Unternehmen für jedes Kalenderjahr eine feste Menge an Zertifikaten kostenfrei zugeteilt, wobei von einem gewissen Produktionsvolumen ausgegangen wird. Anpassungen werden nur vorgenommen, wenn sich das Produktionsvolumen in einem gleitenden 2-Jahres-Durchschnitt um mehr als 15% verändert. Wenn die Produktionsmenge beispielsweise um 10% fällt, ändert sich die Zahl der kostenlosen EUA´s nicht.

Emissionszertifikate als Gewinnbringer?

Zusammen führen diese Effekte dazu, dass die Kostenwirkung des EU-ETS stark abgeschwächt wird oder sogar ins Gegenteil umschlägt. Dies legt ein Vergleich der kostenfrei zugeteilten mit der tatsächlich benötigten Menge an Emissionszertifikaten nahe. Diese Daten sind öffentlich zugänglich, wenn auch nicht ganz leicht zu finden.

So wird in einer Ende November veröffentlichten Studie der Organisation „Carbon Market Watch“ darauf verwiesen, dass der größte europäische Stahlhersteller ArcelorMittal im Jahr 2022 mehr als 44 Mio. Tonnen EUA´s kostenfrei bekommen habe, während nur knapp 37 Mio. Tonnen CO2 tatsächlich ausgestoßen wurden. Zudem wird auf eine Recherche verwiesen, nach der das Unternehmen zwischen 2005 und 2019 einen Gewinn von 1,9 Mrd. € durch den Verkauf von EUA´s erzielt habe.

Für Deutschland kommt ein Bericht der Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt)

vom Mai 2023 zu dem Ergebnis, dass der Sektor „Roheisen- und Rohstahlherstellung“ in Deutschland für das Jahr 2022 eine Freizuteilungsmenge erhalten hat, die die Emissionen des Jahres 2021 um 50,1% überschritt. Der Sektor erhielt 2022 ca. 43,5 Mio. Zertifikate kostenfrei. Das entspricht einem Marktwert von ca. 3,9 Mrd. €. Benötigt wurden 29,025 Mio. EUA, woraus eine rechnerische Mehrzuteilung von ca. 14,5 Mio. € EUA resultiert. Bezogen auf die in diesem Jahr produzierte Mengen an Walzstahl, würde dies rechnerisch einen finanziellen Zugewinn  von knapp 40,- € pro Tonne entsprechen.

Allerdings heißt es in dem Bericht weiter, dass nicht diese nominelle kostenlose Zuteilung ausschlaggebend sei, sondern der bereinigte kostenlose Zuteilungsgrad. Durch die für integrierte Hüttenwerke charakteristische Weiterleitung von Kuppelgasen zur energetischen Nutzung sei nämlich davon auszugehen, dass mit der Weiterleitung von Kuppelgasen auch Emissionsberechtigungen von den kuppelgaserzeugenden Anlagen der Eisen- und Stahlindustrie an die kuppelgasverwertenden Energieanlagen weitergegeben werden. So errechnet die Behörde einen „bereinigten Ausstattungsgrad“ von 95,3 Prozent. Das heißt, dass die Eisen- und Stahlindustrie im Jahr 2022 rechnerisch etwa 5 Prozent weniger kostenlose Zuteilungen erhielt, als sie für die berichteten Emissionen abgeben musste. Bezogen auf die in diesem Jahr produzierte Mengen an Walzstahl, errechnet sich daraus dies eine mittlere Kostenbelastung von knapp 5,- € pro Tonne Walzstahl. Auch hier ist von großen Unterschieden zwischen der Erzeugungsrouten und einzelnen Erzeugern auszugehen.

Das Konzept des „bereinigten Ausstattungsgrades“ ist allerdings nicht unumstritten. So heißt es in einer Stellungnahme des Bundesrechungshofes aus dem Jahr 2022: „Auf EU-Ebene findet diese Form der Datenbereinigung nicht statt. …. Es ist außerdem methodisch fragwürdig, zusätzlich eine bereinigte Statistik zum Ausstattungsgrad zu erstellen, ohne genau zu wissen, wie in den der Bereinigung zugrunde liegenden Fällen mit dem wirtschaftlichen Vorteil der kostenlosen Zuteilung verfahren wird.“ (S. 43/44).

Eine auf der Homepage der DEHSt abrufbare "Anlagenliste", in der Emissionen und Freizuteilung aller in Deutschland dem EU-ETS unterliegenden Unternehmen aufgelistet sind, ermöglicht es Interessenten, sich ein eigenes Bild zu machen. Insgesamt zeigt sich dort, dass die Freizuteilung an Stahlunternehmen in Deutschland unbereinigt teilweise sehr deutlich über den tatsächlichen Emissionen liegt. Dies gilt vor allem für integrierte Hüttenwerke.

Erst ab 2026 wird CO2 zum maßgeblichen Kostenfaktor

Die CO2-Kosten der Stahlherstellung sind ein so sensibles wie komplexes Thema. Die nähere Analyse zeigt, dass pauschale Aussagen zur Höhe etwaiger Mehrkosten nicht haltbar sind. Entscheidend ist vielmehr der Einzelfall, wo es eine breite Spanne von Konstellationen geben dürfte. Insgesamt dürften die tatsächlichen Mehrkosten weit unter theoretisch ableitbaren Werten liegen. Es ist nicht unrealistisch, dass die Teilnahme am EU-ETS in einzelnen Fällen sogar zu Gewinnen führt.

Sowohl aus klimapolitischer als auch industriepolitischer Sicht scheint es fragwürdig, große CO2-Emittenten seit fast 20 Jahren in das an sich überzeugende System des Emissionshandels zu zwingen, das dann aus Furcht vor einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit durch die tatsächliche Ausgestaltung weitgehend seiner Wirkung beraubt wird. Bisher waren die Anreize zur Emissionsreduzierung äußerst begrenzt, zumal es weitere Maßnahmen zur Kompensation indirekter Mehrkosten gibt. Ändern wird sich das erst ab 2026. Denn mit der Einführung des europäischen CO2-Grenzausgleichs wird dann auch die Freizuteilung im EU-ETS schrittweise zurückgeführt. Erst dann wird CO2 tatsächlich  zu einem maßgeblichen Kostenfaktor.

© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.

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