Stahlmarkt Consult Blog
Der lange Weg zum „grünen“ Stahl
Die Umstellung der Stahlerzeugung auf „grüne“ Technologien ist auf der wirtschaftspolitischen Agenda weit nach oben gerückt und bestimmt maßgeblich die strategische Ausrichtung europäischer Stahlhersteller. Vielen Stahlverarbeitern sind die weitreichenden Auswirkungen auf das eigene Geschäft dagegen zu wenig bewusst. Bei dem Thema mischen sich politische und unternehmerische Fragestellungen, die sich wechselseitig beeinflussen. Nicht nur werden heute die politischen Weichen für die Zukunft gestellt, sondern Fragen nach dem CO2-Fußabdruck von Stahlerzeugnissen gewinnen in hoher Geschwindigkeit Bedeutung für das operative Geschäft.
Faktor Zeit: Der Verweis auf die ferne Zukunft hilft nur bedingt
In kurzen Intervallen starten EU-Stahlhersteller zukunftsträchtige Pilotprojekte, die dabei helfen sollen, den hohen CO2-Ausstoß der Branche zu senken. Im Mittelpunkt stehen dabei in Deutschland Verfahren für eine wasserstoffbasierte Stahlerzeugung und/oder für eine Abspeicherung bzw. produktive Nutzung des im Produktionsprozess anfallenden CO2. Die unter großer politischer Anteilnahme verkündeten Klimaziele sind in der Regel sehr langfristig formuliert. Über Zwischenziele in den 2030er Jahren soll das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2050 erreicht werden.
Dieser Blick in die doch recht ferne Zukunft scheint durch die technischen, finanziellen und politischen Gegebenheiten gerechtfertigt, hilft bei den Herausforderungen der Gegenwart aber nur bedingt. Diese bestehen darin, dass immer mehr Endkunden von ihren Zulieferern schon heute mindestens eine konkrete Auskunft über den CO2-Fußabdruck des verwendeten Stahls verlangen. In Einzelfällen werden bereits auf einer recht straffen Zeitschiene deutliche Minderungen verlangt. Beispiele dafür gibt es in jüngster Zeit nicht nur, aber vor allem aus dem Bereich der Automobilindustrie. Es zeichnet sich ab, dass die CO2-Intensität des eingesetzten Vormaterials schon bald ein entscheidendes Kriterium für die Vergabe von Aufträgen wird.
Das Problem: Es ist heute gar nicht so leicht, die benötigten Informationen zu bekommen. Angaben über den heutigen spezifischen CO2-Ausstoß, bezogen auf die Herstellung einzelner Stahlerzeugnisse in spezifischen Werken, sind kaum zu finden, ebenso wenig konkrete Zielwerte für den zu erwartenden CO2-Ausstoß 2025 oder2030. Die ambitioniertesten prozentualen Minderungsziele nützen aber nur wenig, wenn die Ausgangsbasis gar nicht oder nur in allgemeiner Form bekannt ist.
Dies ist deshalb so relevant, weil der spezifische CO2-Ausstoß nicht nur zwischen den verschiedenen Herstellrouten äußerst unterschiedlich ausfällt. Für Stahlverarbeiter ist zunächst die Feststellung entscheidend, ob der bezogene Stahl über die Hochofenroute oder in Elektrostahlwerken hergestellt wird. Die Hochofenroute, in Europa fast ausnahmslos der Weg der Flachstahlerzeugung, weist einen vier bis fünf Mal so hohen CO2-Ausstoß pro Tonne Stahl auf. Neben den schrottbasierten Elektrostahlwerken haben auch sogenannte Direktreduktionsanlangen eine bessere CO2-Bilanz, die aber noch recht selten sind. Aber auch die Spannbreite zwischen einzelnen Stahlwerken derselben Erzeugungsroute ist groß. Wer heute im Vergleich günstige Werte vorweisen kann, hat also einen klaren Wettbewerbsvorteil. Notwendig für einen Vergleich ist allerdings eine einheitliche Methodik, die heute nicht immer gegeben ist. So macht es einen Unterschied, ob die Erzeugungsstufe Rohstahl oder die Endstufe der Walzstahlerzeugung zugrunde gelegt wird. Auch unterschiedliche „scope“-Abgrenzungen erschweren eine direkte Vergleichbarkeit. Auf internationaler Ebene wird es noch komplexer, da die Spanne möglicher Erzeugungswege und Klimabilanzen dann noch größer wird.
Kurzum: mehr Transparenz über den heutigen CO2-Fußabdruck einzelner Stahlerzeugnisse und Stahlwerke ist dringend nötig und muss beharrlich von den Produzenten eingefordert werden.
Faktor Wertschöpfungskette: Klimaneutralität auch vom Ende her denken
Aus einer Vielzahl von Gründen wird Klimaneutralität in der Wertschöpfungskette Stahl heute ganz überwiegend vom Anfang her gedacht. Kurz gesagt lautet die politisch vorherrschende Argumentationslinie: Stahl ist eine Schlüsselindustrie, die als Basis der stahlbasierten Wertschöpfungsketten in der EU erhalten werden muss.
Umgesetzt wird dies in einer ersten Stufe einer immer deutlicher zu Tage tretenden Bereitschaft zur staatlichen Unterstützung der Transformation auf direktem oder indirektem Wege. Da „grüner“ Stahl nach Schätzungen zwischen 30 und 100% teurer sein wird als heute, reicht dies aber nicht aus. Hohe Investitionen lohnen nur, wenn das geförderte Produkt auch verkauft werden kann. Daher werden flankierend weitere Unterstützungsmaßnahmen diskutiert, mit einer nicht kleinen Wahrscheinlichkeit der späteren Umsetzung. Ein Beispiel dafür sind Quotenvorgaben für Endprodukte aus „grünem“ Stahl. Da andernorts Klimaschutz anders als in der EU definiert wird und vergleichbare Umstellungskosten nicht anfallen, hat auch der Vorschlag einer "Grenzausgleichsabgabe" für Stahleinfuhren aus Drittländern nach wie vor Konjunktur, zumal sich die EU-Kommission damit einen Weg zu händeringend gesuchten Zusatzeinnahmen öffnen möchte.
Dieses Denken bringt für Stahlverarbeiter hohe Risiken mit sich, denn sie drohen bei der Gestaltung des politischen Rahmens vergessen zu werden. Stark steigende Kosten für das mit Abstand wichtigste Vormaterial, Markteingriffe zugunsten der Grundstoffindustrien und ein verzerrter internationaler Wettbewerb - dies ist eine explosive Mischung, die für wenig marktmächtige Stahlverarbeiter schnell existenzbedrohend werden kann, zumindest aber massiv auf Standortentscheidungen einwirkt.
Was zu oft vergessen wird und mit Kraft in den politischen Raum zu tragen ist: Ohne international wettbewerbsfähige Stahlverarbeiter ist die EU-Stahlindustrie nicht zukunftsfähig. Dies gilt ganz besonders für Deutschland, denn die hiesige exportorientierte Industrie bietet nicht nur ein Vielfaches an Arbeitsplätzen, sie ist als Abnehmer eine unverzichtbare Stütze der Stahlindustrie. Hierzulande wird ca. 40% mehr Stahl verarbeitet als im Inland verbraucht wird. Die Stärke des deutschen Stahlmarktes steht und fällt mit dem (Export-)Erfolg der verarbeitenden Industrie.
Faktor Staat: das Risiko der Fehlsteuerung
Marktwirtschaftliche Lösungen und das Bemühen um multilaterale Übereinkünfte verlieren in der EU-Klimapolitik sichtbar an Bedeutung. Dirigistische Eingriffe und einseitige Festlegungen der EU bestimmen den Diskurs. Auch Deutschland scheint in der Stahlpolitik diesen Weg beschreiten zu wollen. Die Einbettung der Stahlindustrie in eine industriepolitische, staatliche Wasserstoffstrategie, die angestrebte Lockerung von Beihilferegeln, staatliche Forschungsförderung, Prüfaufträge für handelsbeschränkende Maßnahmen – für diese These gibt es genügend Beispiele.
Diese Maßnahmen mögen politisch und erst recht aus Sicht der Stahlindustrie gut zu begründen sein. Auch aus Sicht der Stahlverarbeiter kann man das Vorgehen unterstützen in der Hoffnung, dass durch eine großzügige Unterstützung der Stahlhersteller die aus der De-Carbonisierung resultierenden Lasten für Stahlverarbeiter kleiner werden. Es steht auch außer Frage, dass der Fortbestand einer leistungsfähigen europäischen Stahlindustrie gurndsätzlich im Interesse ihrer Kunden ist.
Es gibt aber ebenso gewichtige Gegenargumente: Schon über die Frage, inwieweit der Staat einzelne Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität überhaupt unterstützen soll (und andere Unternehmen nicht), kann man trefflich streiten. Gerade bei der europäischen Stahlindustrie, die nicht müde wird, Staatshilfen in anderen Ländern als wettbewerbsverzerrende Subvention zu geißeln, begibt man sich mit diesem Weg auf dünnes Eis.
Eines darf nicht übersehen werden: staatliche Eingriffe beinhalten die Möglichkeit des fulminanten Scheiterns. Was ist, wenn die Wasserstoff-Strategie aus technischen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen nicht funktioniert? Was, wenn mit staatlichen Mitteln Unternehmen künstlich am Markt gehalten werden, die eigentlich ihre (internationale) Wettbewerbsfähigkeit verloren haben? Was, wenn mit staatlicher Hilfe in Kapazitäten investiert wird, für deren Erzeugnisse es keine Abnehmer gibt? Was, wenn die Verringerung des CO2-Ausstoßes mit einem wesentlich geringeren Mitteleinsatz effizienter erreicht werden kann?
In einer Zeit, in der Gesellschaft und leider auch größere Teile der Wirtschaft immer stärker der Staatsgläubigkeit zugeneigt scheinen, drohen diese Fragen zu wenig diskutiert zu werden. Ein Blick über den Tellerrand hinaus würde dabei helfen. Denn schon in Europa und erst recht in den USA gibt es Stahlhersteller, die sich aus eigener Kraft eine deutliche Reduzierung ihres CO2-Ausstoßes zutrauen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel auch die Schließung von Hochöfen und Investitionen in klimafreundlichere Elektrostahlwerke.