Das hat niemand kommen sehen: Am Ende eines Stahljahres, das lange unter dem Vorzeichen einer großen Krise stand, zeigen die Märkte eine fulminante Aufwärtsbewegung. Stahl- und Rohstoffpreise haben inzwischen nicht nur das Vor-Corona-Niveau übertroffen, sondern langjährige oder sogar historische Höchststände erreicht. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern weltweit. Stahl ist derzeit ein knappes Gut und die Preise steigern sich in einen regelrechten Rausch. Woran liegt das? Und: kann das gutgehen?
Stahlmarkt Consult Blog
Stahlverarbeiter reiben sich verwundert die Augen: Während der Stahlbedarf in Deutschland in diesem Jahr auf den tiefsten Stand seit elf Jahren fällt, ist aktuell die Stahlbeschaffung im Marktsegment der Flachprodukte eine herausfordernde Aufgabe. Berichte über äußerst lange Lieferzeiten mischen sich mit der Sorge, die benötigten Stahlmengen nicht rechtzeitig zu bekommen. Ursache dieses Zustands ist eine asynchrone Entwicklung von Angebot und Nachfrage in Kombination mit zurückgehenden Importmengen. Was zunächst nach einer kurzen sommerlichen Episode aussah, scheint sich im Herbst zu verfestigen.
Üblicherweise halten sich über den Sommer die Preisbewegungen am Stahlmarkt in Grenzen. In diesem Jahr ist jedoch seit der zweiten Augusthälfte am Spotmarkt für Flachprodukte eine stärkere Aufwärtsdynamik zu beobachten. Im Gegensatz zu früheren Versuchen haben die jüngsten Preisankündigungen der Hersteller eine große Wirkung erzielt. Den Unternehmen der stahlverarbeitenden Industrie, die überwiegend noch mitten in der Corona-Krise stecken, droht zur Unzeit ein deutlicher Anstieg der Materialkosten. Ursächlich dafür sind höhere Rohstoffkosten, ein nur schwacher Importdruck und eine engere Angebots-Nachfrage-Relation. Der Preisanstieg dürfte sich kurzfristig fortsetzen. Die Tragfähigkeit dieser Entwicklung ist aber noch alles andere als sicher.
Die Umstellung der Stahlerzeugung auf „grüne“ Technologien ist auf der wirtschaftspolitischen Agenda weit nach oben gerückt und bestimmt maßgeblich die strategische Ausrichtung europäischer Stahlhersteller. Vielen Stahlverarbeitern sind die weitreichenden Auswirkungen auf das eigene Geschäft dagegen zu wenig bewusst. Bei dem Thema mischen sich politische und unternehmerische Fragestellungen, die sich wechselseitig beeinflussen. Nicht nur werden heute die politischen Weichen für die Zukunft gestellt, sondern Fragen nach dem CO2-Fußabdruck von Stahlerzeugnissen gewinnen in hoher Geschwindigkeit Bedeutung für das operative Geschäft.
In den vergangenen Tagen vorgelegte Zahlen zeigen, dass der von der Corona-Krise verursachte Nachfrageschock den deutschen Stahlmarkt mit voller Wucht trifft. Nach der Prognose des Weltstahlverbandes wird das Marktvolumen in diesem Jahr sogar noch etwas unter das Krisenjahr 2009 fallen. Im internationalen Vergleich steht kaum ein Land schlechter da. Grund dafür ist die überdurchschnittlich große Bedeutung der Automobilindustrie als Stahlabnehmer. Im April kam es zu einem drastischen Nachfrageeinbruch, der offenbar durch die ebenfalls deutlichen Produktionsrücknahmen nicht voll kompensiert wurde.
Am europäischen Stahlmarkt ist in den vergangenen Wochen eine Diskussion über eine von der Stahlindustrie geforderte drastische Verschärfung der geltenden EU-Schutzmaßnahmen gegen Stahleinfuhren aufgekommen. Begründet wird diese mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Ruft man sich in Erinnerung, wozu Schutzmaßnahmen eigentlich gedacht sind, wird deutlich: die Forderungen der Stahlindustrie haben jedes vernünftige Maß verloren. Das Instrument der Schutzmaßnahmen wird mehr und mehr umfunktioniert. Dass die EU-Kommission dieses Spiel offenbar mitspielt, zeigt, dass es bei den Schutzmaßnahmen sehr viel um Politik, aber nicht mehr um ein regelbasiertes Handelssystem geht.
Die Stahlmärkte befinden sich derzeit weltweit im festen Griff der Coronakrise. Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite sind schockartige Entwicklungen zu verkraften, deren Folgen kaum absehbar sind. Während sich die Stahlpreise in der EU derzeit noch relativ unbeeindruckt zeigen, sind in anderen Regionen teilweise heftige Preisrückgänge zu verzeichnen. Auch hierzulande dürften vor allem bei Flachstahl die Spotmarktpreise in den kommenden Wochen spürbar fallen.
Nachdem am Spotmarkt die Flachstahlpreise in den vergangenen Wochen spürbar gestiegen sind, dürfte die Luft für einen weiteren Anstieg jetzt dünner werden. Denn am Jahresanfang hat die Auffüllung der zuvor leergeräumten Bestände die Stahlnachfrage kräftig unterstützt. Ein Effekt, der jetzt schwächer wird. Mit dem Coronavirus ist ein neuer Unsicherheitsfaktor hinzugekommen, der die Einschätzung der weiteren Entwicklung erschwert. Bei aller Unsicherheit sieht es derzeit so aus, dass die Preise im zweiten Quartal sukzessive wieder sinken könnten.