Stahlmarkt Consult Blog
Der EU-Vorschlag zur Importbegrenzung geht zu weit
Der am 7. Oktober präsentierte Vorschlag der EU-Kommission für eine drastische Reduzierung der Drittlandimporte ab 2026 ist das Top-Thema am Stahlmarkt. Während Stahlhersteller Beifall spenden, sind viele Stahlverarbeiter geschockt. Die unterschiedlichen Reaktionen sind nachvollziehbar, denn bei einer vollständigen Umsetzung würden die Karten am Stahlmarkt neu gemischt. Die dafür vorgetragenen Gründe können nicht überzeugen. Die massive Beschneidung der Importmöglichkeiten ist nicht ausgewogen und birgt für Stahlverbraucher in der EU enorme Risiken. Der Vorschlag ist nicht ausgewogen und muss geändert werden.
EU-Kommission greift Forderungen der Stahlindustrie fast vollständig auf
Selten zuvor dürften Forderungen einer einzelnen Branche so vollständig in einen EU-Vorschlag eingeflossen sein. Die drastische Reduzierung der bisherigen Zollfrei-Kontingente für Stahleinfuhren um 47% auf dann insgesamt 18,3 Mio. Tonnen bei gleichzeitiger Verdopplung des Zollsatzes für Mengen oberhalb des Kontingents auf 50% entspricht den Maximalforderungen der Branche, die von 11 der 27 EU-Mitgliedstaaten unterstützt worden waren. Die Menge wird aus dem Marktanteil von Importen im Jahr 2013 abgeleitet, der bei 13% lag. Die bisherige Übertragbarkeit der in einem Quartal nicht genutzten Kontingente in Folgequartale soll es nicht mehr geben. Länderspezifische Ausnahmen, die es bisher für Entwicklungsländer wie Indonesien gab, sollen weitestgehend abgeschafft werden, lediglich Importe aus Norwegen, Island und Liechtenstein bleiben verschont. Zusätzlich soll eine „melt & pour“-Klausel eingeführt werden, so dass Importeure bei der Einfuhr Nachweise zur Herkunft des Ursprungsmaterials vorlegen müssen.
Begründungen überzeugen nicht
Die drastischen Maßnahmen werden als Schutz gegen unlauteren Wettbewerb und gegen globale Überkapazitäten verkauft. Das Problem dabei ist, dass nicht nur unlautere, sondern alle Einfuhren oberhalb einer sehr niedrig angesetzten Schwelle faktisch vom EU-Markt ausgeschlossen werden. Denn ein Zoll von 50% wird in den allermeisten Fällen prohibitiv wirken. Das richtige Instrument gegen unfairen Wettbewerb sind Anti-Dumping- und Anti-Subventionsverfahren. Schon jetzt entfallen 80 der bestehenden 229 Handelsschutzmaßnahmen der EU auf den Stahlsektor, der damit also keineswegs ungeschützt ist. Nicht jeder preisgünstige Import ist unfair.
Auch der Verweis auf globale Überkapazitäten von 620 Mio. Tonnen überzeugt nicht. Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen Überkapazitäten und dem Zustand der EU-Stahlindustrie. Diese erzielte 2021/2022 Rekord-Gewinne bei globalen Überkapazitäten von 560 Mio. Tonnen. Die EU-Einfuhren erreichten ihren höchsten Stand im Jahr 2021 infolge einer massiven Versorgungskrise, die von den EU-Herstellern nicht gelöst werden konnte. Gegenüber 2021 lagen die Importe im Jahr 2024 um 10% und bei Langprodukten um 15% niedriger. Auch in diesem Jahr liegen die EU-Importe unter dem Vorjahr. Die Marktanteile haben sich nur wenig verändert. Nicht zuletzt weist die EU selbst erhebliche Überkapazitäten auf. Nach den Angaben der OECD haben sich die Rohstahlkapazitäten in der EU zwischen 2020 und 2024 praktisch nicht verändert und überschreiten die Nachfrage prozentual deutlich mehr als beispielsweise in China.
Eine Rückführung der Marktanteile von Importen auf das Jahr 2013 ist vollkommen willkürlich. Sie ignoriert die zwischenzeitliche Veränderung der globalen Stahlwelt und der weltweiten Lieferverflechtungen sowie die Situation der Stahlverarbeiter. Diese stehen im harten internationalen Wettbewerb und sind, nicht zuletzt durch Forderungen von Kunden, darauf angewiesen, Stahl zu international wettbewerbsfähigen Preisen zu beziehen.
Die Folgen können gravierend sein
Eine Einschätzung der Auswirkungen kann nur vorläufig sein. Wie lange die nötigen Verhandlungen auf EU-Ebene dauern und welche inhaltlichen Änderungen noch vorgenommen werden, ist unklar. Der Zeitpunkt des Inkrafttretens steht ebenso nicht ganz fest. In der Bekanntgabe des Vorschlages heißt es, dass die Maßnahme die Schutzmaßnahmen ersetzen soll, wenn diese Ende Juni 2026 auslaufen. Interessierte Kreise werden weiter auf ein frühzeitiges Inkrafttreten drängen. Verhandlungen, auch mit den EU-Handelspartnern, könnten den Prozess verzögern. Der Vorschlag nennt zwar für die einzelnen Erzeugnisse die neuen Mengen der Zollfrei-Kontingente, sagt aber nichts dazu, wie diese auf die einzelnen Lieferländer verteilt werden. Dies kann die Marktwirkungen erheblich beeinflussen.
Sollte der Vorschlag ohne Abstriche umgesetzt werden, würde dies insbesondere den Flachstahlmarkt treffen. Nach StahlmarktConsult-Berechnungen würden die neuen Kontingente bei Flachstahl zu einem Rückgang der Einfuhren um ca. 8,5 Mio. Tonnen gegenüber den Mengen des Jahres 2024 führen. Das entspricht mehr als 10% des EU-Verbrauchs. Unter den Langprodukten war 2024 Walzdraht mit 15% das Produkt mit dem höchsten Importanteil. Hier würden nach dem Vorschlag Importe in Höhe von ca. 1 Mio. Tonnen oder knapp 6% des EU-Verbrauchs wegfallen. Auch bei einigen Rostfrei-Erzeugnissen tragen Importe einen erheblichen Teil der EU-Versorgung.
Mittelfristig hängt alles davon ab, wie schnell die EU-Hersteller die entstehende Versorgungslücke schließen können und wollen. Die Erinnerung an die Versorgungskrise des Jahres 2021, in denen eine Bedienung der damals schnell steigenden Nachfrage nur unbefriedigend gelang, weckt hier aus Verbrauchersicht böse Erinnerungen. Dass die EU-Werke die neue Situation dazu nutzen werden, ihre Preisforderungen zu erhöhen, darf angenommen werden. Auch wenn der Zeitpunkt und das Ausmaß der umsetzbaren Erhöhungen noch nicht klar sind, sollten Stahleinkäufer ihre Preiserwartungen für das kommende Jahr deutlich nach oben korrigieren. Der in einem begleitenden Arbeitsdokument der Kommission genannte Preisanstieg um 3,25% infolge der Maßnahmen dürfte weit untertrieben sein.
Die kurzfristigen Auswirkungen sind weniger klar. Denn das Zeitfenster zwischen Verkündung und Inkrafttreten der neuen Maßnahmen eröffnet Möglichkeiten für Marktreaktionen. Sowohl Importeure als auch Stahlverbraucher insgesamt könnten ihre Bestände kurzfristig erhöhen, um den erhöhten Zöllen und ihren Folgen noch zuvorzukommen. Die gegenläufige Wirkung der beiden Effekte sind schwer gegeneinander abzuwägen. Grundsätzlich bergen Lagereffekte ein Potenzial für heftige Preisbewegungen, sind aber schwer vorherzusagen. Ob es dazu angesichts einer schwachen Konjunktur und einer in vielen Unternehmen angespannten Liquidität kommt, bleibt abzuwarten.
Änderungen sind erforderlich
Kern der Krise des EU-Stahlmarktes ist eine Nachfragekrise. Diese wird mit dem Vorschlag in keiner Weise adressiert, sondern noch verschärft. Denn der massive Schutz der Stahlindustrie wird die Umlenkung des Drittlandwettbewerbs auf verarbeitete Erzeugnisse, wie er im Rahmen von CBAM bereits diskutiert und festgestellt wird, noch verschärfen. Ein entsprechender Schutz für verarbeitete Stahlerzeugnisse wird nicht gewährt, sondern soll allenfalls in Zukunft geprüft werden. Die Kostennachteile von Stahlverarbeitern im internationalen Wettbewerb werden noch vergrößert. Es grenzt an Sarkasmus, wenn die EU-Kommission ihren Vorschlag in ihrer Pressemeldung in den Kontext einer geringen Binnennachfrage und hoher Energie- und Herstellungskosten stellt. Den Zustand hat sie wesentlich selbst mit verursacht und wird ihn mit dem Vorschlag für weite Teile der stahlbasierten Wertschöpfungskette noch verschlechtern.
Ja, auch die Stahlverarbeiter haben ein Interesse am Fortbestand von leistungsfähigen Stahlherstellern in der EU. Und ja, es gibt tatsächlich Probleme durch massiv steigende chinesische Exporte, daraus resultierende Umlenkungseffekte und den weltweiten Trend zum Protektionismus. Aber nein, dieser Vorschlag ist nicht ausgewogen und schüttet das Kind mit dem Bade aus. Änderungen sind erforderlich und Stahlverarbeiter sollten sich intensiv dafür einsetzen.
© StahlmarktConsult Andreas Schneider. Verwendung nur mit Quellenangabe erlaubt.