Stahlmarkt Consult Blog
Mehr Wettbewerb statt Konsolidierung am EU-Stahlmarkt
Für die künftige Struktur des EU-Stahlmarktes hat es zuletzt zwei wichtige Entwicklungen gegeben. Die Absage des Joint-Ventures zwischen Tata Steel Europe und ThyssenKrupp Steel sorgte für viele Schlagzeilen. Aus welchen Gründen auch immer: die Unternehmen haben letztlich nicht genug dafür getan, die berechtigen Wettbewerbsbedenken der EU-Kommission zu zerstreuen. Diese hatte kurz zuvor, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, den Erwerb einzelner Standorte des Marktführers ArcelorMittal durch die Liberty House Group endgültig genehmigt. Damit betritt ein völlig neuer Player mit einer international ausgerichteten Zukunftsvision den europäischen Flachstahlmarkt. Dort nimmt die Anbieterzahl zu, anstatt dass die Konsolidierung voranschreitet. Aus Kundensicht ist es zu begrüßen, dass so der Wettbewerb erhalten bleibt.
ThyssenKrupp/Tata: Zu wenig ist nicht genug
Dass das Joint-Venture zwischen ThyssenKrupp und Tata nun doch nicht kommt, konnte am Ende nicht mehr allzu sehr überraschen. Die von Anfang bestehenden Wettbewerbsbedenken der EU-Kommission wurden zunächst von den Unternehmen kleingeredet. Der dann als Zugeständnis angebotene Verkauf von Verzinkungslinien in Spanien und Belgien und von Verpackungsblechwerken der Tatasteel Europe waren der Kommission offenbar zu wenig. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass diese ihrer Aufgabe als Wettbewerbshüterin gerecht geworden ist und sich – anders als in manchen Außenhandelsverfahren – nicht politischem Druck zur Schaffung vermeintlicher „Champions“ gebeugt hat. Es ist davon auszugehen, dass die Kommission die zur Abschätzung der Wettbewerbswirkungen durchgeführten Markttests objektiv, mit hohem Sachverstand und unter Einbeziehung der betroffenen Kunden durchgeführt hat. Dass der Markt in manchen Segmenten wie den Verpackungsblechen oder bestimmten Automotivegüten bereits jetzt eine hohe Konzentration aufweist, kann nicht bestritten werden.
Ob, wie von ThyssenKrupp und Tata Steel kommuniziert, weitere Nachbesserungen die wirtschaftliche Logik des Joint Ventures wirklich zunichte gemacht hätten, sei dahingestellt. Jedenfalls ist zuletzt auch von gewerkschaftlicher Seite der Widerstand gegen die Veräußerung weiterer Unternehmensteile gewachsen. Vielleicht war der Aufsichtsrat von ThyssenKrupp auch nicht mehr voll von der Sinnhaftigkeit des Unterfangens überzeugt. Aus welchen Gründen auch immer: das Gebotene war letztlich einfach nicht genug.
Vielen Kunden dürfte die Absage des Joint-Ventures erst einmal erleichtern. Denn eine noch weiter schrumpfende Zahl von EU-Flachstahlanbietern konnte dem Stahleinkauf schon aus strategischen Gründen nicht gefallen. Unternehmensinterne Vorgaben für eine Mindestzahl von Lieferanten wären mit dem Wegfall eines weiteren maßgeblichen EU-Lieferanten bei gleichzeitig zunehmender Einschränkung der Importmöglichkeiten kaum noch erfüllbar gewesen. Andererseits ist auch aus Kundensicht eine leistungs- und wettbewerbsfähige europäische Stahlindustrie nötig. Die Frage, ob die operativen Ergebnisse für ThyssenKrupp im Verbund mit TataSteel besser als im Alleingang ausgefallen wären, bleibt hypothetisch. Schiere Größe ist kein Erfolgsgarant. Zweifellos sind die Herausforderungen für den Stahlstandort aber so groß, dass ein „Weiter so“ wenig erfolgversprechend scheint. Nicht der oft zitierte „Billigstahl“ aus China ist das wichtigste Problem, sondern der schleichende Verlust von Qualitätsvorteilen, der im Verbund mit hohen Kosten und verhaltenen Nachfrageperspektiven am EU-Heimatmarkt zu einer schwächeren Position im internationalen Wettbewerb führt.
Liberty House Group: Neuer Player mit Visionen
Mehr Chancen als Risiken am EU-Flachstahlmarkt erkennt offenbar der indische Unternehmer Sanjeev Gupta. Dieser hat im vergangenen Jahr zugeschlagen, als es ArcelorMittal im Zuge des Kaufs des italienischen Anbieters Ilva von der EU-Kommission auferlegt wurde, sich von verschiedenen Unternehmensteilen zu trennen. Die Motivation für diese Auflagen war auch hier die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Wettbewerbs. Der Erwerb von integrierten Hüttenwerken in Rumänien und Tschechien sowie von Walzwerken für Flachstahl in Italien, Belgien, Luxemburg und Mazedonien durch die Liberty House Group mit Hauptsitz in London wurde im April von der EU endgültig genehmigt und soll bis zur Jahresmitte umgesetzt werden. Auch hier war eine eingehende Untersuchung vorausgegangen. Die Parteien mussten verschiedene Zugeständnisse vor allem finanzieller Art machen, um die langfristige Überlebensfähigkeit der in Frage stehenden Werke glaubhaft zu sichern.
Mit der Transaktion wird Liberty House zur Nummer drei oder vier am EU-Stahlmarkt. Die Flachstahlkapazität der zugekauften Anlagen dürfte zwischen sieben und zehn Mio. Tonnen liegen. Damit wird der neuer Player Wettbewerber wie die VOEST oder Salzgitter weit hinter sich lassen. Das Unternehmen wurde von Gupta im Jahr 1992 als Handelsunternehmen gegründet und stieg erst 2009 mit dem Erwerb von Stahlwerken in Afrika ins Stahlgeschäft ein. In der Folge wurden unter anderem 2013 ein Stahlwerk in Australien sowie ab 2015 Spezial- und Langproduktehersteller in Großbritannien gekauft. Mit dem Zukauf der sieben ArcelorMittal-Werke wird der Stahlanteil der Gruppe, die unter dem Dach der GFG Alliance noch in zahlreichen weiteren Geschäftsfeldern aktiv ist, signifikant ausgebaut.
Unternehmens-Chef Gupta hat angekündigt, die verschiedenen Stahlaktivitäten der Gruppe unter einem Dach zu bündeln. Die international ausgerichtete Strategie beinhaltet eigene Eisenerz- und Kokskohleminen und den Bau eines neuen Stahlwerks in Australien. Die dort kostengünstig hergestellten Halbzeuge sollen dann an den weiteren Standorten ausgewalzt werden sollen. Mit einer anvisierten Stahlerzeugung von 20 Mio. Tonnen werde man unter die Top 10 der nicht-chinesischen Stahlhersteller vorstoßen, hieß es.
Ob und wie schnell diese Vision erfolgreich realisiert werden kann, bleibt abzuwarten. Dass es aber in heutigen Zeiten überhaupt eine positive unternehmerische Vision für den Stahlstandort EU gibt, ist auf jeden Fall wohltuend. Und dass der Wettbewerb dadurch schon bald neuen Schwung erhält, scheint sicher. Wer hätte das gedacht?